Der Parsifal-Gralsmythos, der sich in diversen mittelalterlichen Epen wiederfindet, erlangte zahlreiche Erweiterungen und Umdeutungen (zuletzt in der Wagner-Oper); in ihm werden archetypische Menschen- und Weltenschicksale in höchst subtiler, symbolträchtiger und komplexer Verstrickung dargestellt.
Im eigentlichen Sinne ist der Parsifal-Gralsepos, vielleicht mehr noch als Goethes Drama "Faust", das abendländische Mysteriendrama schlechthin.
In den Gralsgeschichten wird uns mahnend vor Augen gestellt, dass alles Leid und Dilemma aus den polaren und divergierenden Weltbildern entsteht, die in uns selbst walten.
Es scheint, dass die Rahmenbedingungen dieser Legende sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und zu Beginn des neuen Jahrtausends als aktuell und bedeutungsvoll erweisen. Für viele spürbar und nachvollziehbar befinden wir uns in eben genau jenem Konflikt, den man als naturwissenschaftlich und mysterienlos einerseits, und auf der Suche nach einem sinnerfüllten Sein und der Wieder-Verzauberung der Welt andererseits, bezeichnen kann. Zum einen sehen wir die ungeheure Dynamik menschlicher Verstandesleistungen im rasanten Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Zum anderen stehen wir einem kaum mehr zu überblickenden Angebot an metaphysischen Anschauungen und Deutungen gegenüber, denen die Relativierung des materialistischen Weltbildes und eine Zuwendung zu mehr spirituellen Themen durch Versenkung im Geistigen gemein ist, um durch lebensphilosphische Betrachtungen die Einsamkeit, Sinn- und Bedeutungslosigkeit des intellektuellen und "aufgeklärten" Menschen, der sich in eine immer unverständlichere Welt hineingeworfen sieht, zu überwinden.
Gedankliche Vorläufer der Gralslegenden waren die Geschichten um Merlin und den geheimnisvollen König Artus und seiner Tafelrunde, die sich im sog. "Matiere de Bretagne", dem britannischen Sagenkreis, wiederfinden und die keltisches, also heidnisches, Gedankengut überliefern, welches eng verbunden ist mit der Vorstellung von Tod, Wiedergeburt und Erneuerung.
Von der britischen Insel gelangten sie dann über fahrende Geschichtenerzähler, Troubadoure und Minnesänger genannt, an die französischen Höfe, wo sie eine Um- und Weiterdichtung erfuhren. Die Minnesänger und Troubadoure besangen in ihren Geschichten ihr Ideal der Frau, welches konträr zu dem von einem seltsamen Frauenhass geprägten Zeitgeist der mittelalterlichen Epoche war. Diese Epoche war ja nicht zuletzt bestimmt von einer manisch-pauschalen Schuldzuweisung an das Weibliche für alle kirchlichen Verwerfungen. War es nicht auch Eva in der christlichen Paradiesgeschichte, mit dessen Verführungskünsten alles Dilemma begann? Wen wundert es da noch, dass in den perversen Folterkammern der kirchlichen Inquisition mit sadistischer Lust die (vordergründig) als "Hexe" verdächtigte (weise) Frau (genauer gesagt "Das Weibliche") gemartert wurde. Die Matriachatsforscherin Rüttner-Cova vermerkt hierzu: "Das Hexenbild übernimmt alle weiblichen Aspekte, die dem frauenentfremdeten Mann Angst bereiten. Als erotisches, dämonisches, autonomes und "böses" Weib (und kräuterkundiger Schamanin obendrein) ist die Hexe (das Weibliche) zur Projektionsträgerin ungelebter perverser Sexualvorstellungen und Minderwertigkeitskonflikte (des Mannes) geworden...."
Die bekannteste französische Bearbeitung des Stoffes stammt von dem Dichter Chretien de Troys ,"Le Conte du Graal" betitelt. Er war es, der den Geschichten um den Artus-Kreis eine erweiterte Dimension gab, "indem er zwei seiner magischen Reliquien, Schüssel (Kelch) und Lanze, in den Bereich des Christlich-Wunderbaren erhob und das märchenhafte Verfehlen und Gelingen des Helden christlich deutete als einen Weg durch die Sünde zur Gnade".
Neben vielen mehr oder weniger zeitgleich entstehenden Parallelgeschichten, (erinnert an das Prinzip der "Morphogenetischen Felder" nach Sheldrake) wie u.a. Peredur, Perceval, Perlevaux, Queste del Saint Graal u.a., erhält die Legende ca. 1205 durch den Deutschen Dichter Wolfram von Eschenbach eine erweiterte Handlung und einen tieferen Sinn.
Richard Wagner nahm sich Mitte des 19. Jahrhunderts dann des Stoffes wieder an und nutzte die Erzählung Wolframs als Vorlage für seine Oper "Parsifal", sein letztes Werk. Wagner reduzierte die Handlung seiner Oper im wesentlichen auf die schicksalshafte Verstrickung seiner vier Hauptfiguren; nämlich Amfortas, Klingsor, Kundry und eben Parsifal.
Die Gralslegende ist im klassischen Sinne eine gewachsene "Struktur", die durch viele Dichter- und Denkerköpfe weitergeformt wurde. In einem Art alchemistischem Prozesses kristallisierte sich die Quintessenz, das endgültige Thema, heraus: die Suche nach dem Lebenssinn, der Queste, dem Weg der eigenen Bewusstwerdung (Individuation) durch die innere Konfrontation (und deren Sublimierung in ein äußeres Geschehen) mit den gegenpolaren Bewusstseinsaspekten des Amfortas, der logosorientierten "Zweiten Natur", und Klingsor, der (über)-sinnlichen "Ersten Natur" des Menschen.
Interessant ist, dass bei den Alchemisten die Quintessenz als die Einheit bzw. Vereinigung der Gegensätze (weiblich-männlich, hell-dunkel, gut-böse etc.) galt, welches genau das beschreibt, was sich im Parsifal-Bewusstsein vollzieht.
Auch, und gewiss nicht zu verachten, lehrt die Parsifal-Geschichte, dass sowohl Amfortas als auch Klingsor an ihren einseitigen Bewusstseinszuständen keine richtige Freude haben, da sie in ihrer monomanen Übersteigerung jeweils nur einen Teilaspekt darstellen, welcher aber den menschlichen Geist und seine Natur durch seine Einseitigkeit bedroht und schließlich zum geistigen, und als Spiegelung und Projektion dessen, auch zum irdischen "Wüsten Land" führt.
In genau diesem psychologischen Trauma befindet sich das Gralsgebiet, in dem der leidende Gralskönig und die Gralsritter auf den vorbestimmten Erlöser Parsifal warten - den Wandler und Verbinder zwischen den beiden (ehedem) konträren Welten.
Parsifal findet sich sprichwörtlich in der Gralsgeschichte und in ihren verzwickten Abenteuern wieder. Er surft auf dem Gral und befindet sich augenblicklich und unversehens auf der unglaublichen Reise durch seinen eigenen Bewusstseinsraum, auf der unerwarteten Suche nach sich selbst, und im Augenblick, als ihm dies bewusst wird und er dies erkennt, verkündet er:
"Ich, ich bin,s der all dies Elend schuf".
Der Augenblick ist innerhalb der gewöhnlichen, sinnlich-materiellen Welt die einzige unmittelbar-okkulte Tatsache.